Die deutsche Frage von Wilhelm Röpke ist das Buch eines Zeitzeugen. Das Buch erschien in dritter Auflage 1948. Das Buch handelt in seinem ersten Teil vom Dritten Reich und seinem Ende, im zweiten Teil von den historischen Wurzeln des Nationalsozialismus und in seinem dritten Teil von der Lösung der deutschen Frage. Die deutsche Frage ist ein Aufruf zu einer umfassenden moralischen, politischen und wirtschaftlichen Reform. Das Buch zeichnet sich durch eine sehr gute Analyse der Struktur totalitärer Herrschaft aus. Für Wilhelm Röpke muss das Prinzip, dass der Zentralstaat für die gesamte Gesellschaft zuständig ist, beseitigt und durch die kommunale Souveränität ersetzt werden. Dies erfordere die Auflösung des Zentralstaates, die Abschaffung der Monopole in Industrie, Bildung und Gesundheitswesen, die Wiederherstellung eines gesunden Geldes und den freien Handel mit der Welt. Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus dem Schlusskapitel.
Meister der Sprachbilder
Wilhelm Röpke wurde am 10. Oktober 1899 in Schwarmstedt in der Nähe von Hannover geboren. Wilhelm Röpke erlebte die Welt vor 1914. Der Krieg machte ihn zum Liberalen und stellte ihn vor die Frage, wie staatliche Macht begrenzt werden könnte. Seine Antwort: durch Dezentralisierung. Die konföderale Struktur der Schweiz war sein Ideal. Perfektion gibt es nur im Kleinen.

Wilhelm Röpke ist ein Meister der Sprachbilder. Die Gegensätze in der Gesellschaftsphilosophie, die Gesellschaft von unten nach oben und die Gesellschaft von oben nach unten, ist ein solches Sprachbild. Die auf Verträgen beruhende Marktwirtschaft und die kleinräumige Demokratie sind Gesellschaften von unten nach oben. Das Wort Demokratie bedeutet übersetzt kommunale Souveränität. Röpke betont, daß eine Gesellschaft nur in Verbindung mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung bestehen können und erinnert an die moralisch-kulturellen Fragen jenseits von Angebot und Nachfrage. Die Antworten lägen in dezentralen, gewachsenen, selbstverantwortlichen Gemeinschaften und in einer echten nobilitas naturalis.
Wilhelm Röpke wandte sich zeitlebens sowohl gegen den Faschismus als auch gegen den Kommunismus. Die Merkmale von Totalitarismus sind Zentralismus und die Gesellschaft von oben nach unten. Auch die Diktatur im parlamentarischen Gewand entspricht diesem Typus. Wilhelm Röpke identifiziert in diesem Kontext das Credo „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ als entscheidenden Einflußfaktor. Dieser Typus ist durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts moralisch und ökonomisch diskreditiert.
„Ich halte diese defaitistisch-fatalistische Unterwerfung für das Gefährlichste, was wir Liberalen überhaupt unternehmen können. Wir dürfen einfach die Waffen nicht strecken, und wir haben nicht einmal zwingende intellektuelle Gründe, dies zu tun, von den moralischen ganz zu schweigen.“[1]
Kampf gegen den Kollektivismus
Wilhelm Röpke widmete seine wissenschaftliche Laufbahn dem Kampf gegen den Kollektivismus in der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Theorie. Schon früh artikulierte er seine Ablehnung des Nationalsozialismus. Nach dem Berufsverbot im April 1933 wechselte er an die Universität Istanbul und im Oktober 1937 an das Institut universitaire des hautes ètudes internationales in Genf. Als Verfechter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie trug er zu deren theoretischer Struktur bei, warnte vor den Gefahren politischer Zentralisierung und betonte den Zusammenhang zwischen der Kultur und dem Wirtschaftssystem.
Ende Mai 1945 erscheint das Buch Die deutsche Frage, in dem sich Wilhelm Röpke sowohl gegen die nationalsozialistische als auch gegen die kommunistische Variante des Kollektivismus wendet. Die Ideen der anerkannten Ahnen der Sozialdemokratie Lassalle, Fichte und Rodbertus hätten das autoritäre und nationalistische Element des Nationalsozialismus gebildet.[2] Das Fundament aber entstammt dem Preußentum. Wilhelm Röpke legt ausführlich dar, wie viel Preußisches in diesem Sozialismus steckt.
Wilhelm Röpke befaßt sich ausführlich mit der Schuldproblematik. Bei der Schuld gelte das Prinzip der persönlichen Verantwortung. Es gab diejenigen, die sich dem Aufstieg des Nationalsozialismus nicht entgegenstellten. Es gab aber auch die Schuld einzelner Gruppen, wie die Schuld der Männer um von Papen, die Hitler 1933 ins Amt hievten, die Schuld der Reichstagsabgeordneten, die dem Ermächtigungsgesetz zustimmten, die Schuld der Beamten, die sich dem Regime andienten, die Schuld der Wehrmachtsgeneräle, die allein in Deutschland zum Widerstand fähig gewesen wären, und besonders schmerzte Wilhelm Röpke das Klima an den Universitäten, deren Professoren und Studenten die geistige Leibgarde der neuen Machthaber bildeten. Und schließlich war da noch die Schuld des Auslandes, das jahrelang Zugeständnisse gemacht hatte.
Wilhelm Röpke weist darauf hin, daß wesentliche Ideen des Nationalsozialismus Ausdruck einer kollektivistischen Weltverwirrung seien, daß sich der Nationalsozialismus aber vom italienischen Faschismus und vom russischen Kommunismus unterscheide. Der preußische Charakter habe die Deutschen zu einem neurotischen Volk gemacht. Während es im Westen Deutschlands seit dem Spätmittelalter freie Bauern und freie Städte gab, konnten Feudalismus und Absolutismus in den preußischen Gebieten nicht überwunden werden. Die von Romantik, Pantheismus und Protestantismus geprägte preußische Kollektivmoral bildete einen fruchtbaren Nährboden für den Sozialismus. Die Vereinigung des deutschen mit dem preußischen Geschichtsstrom im Jahre 1866 bereitete den Boden für die gesellschaftliche Krise der Gegenwart. Für Röpke war das Jahr 1866 das Schicksalsjahr Deutschlands, denn die Annexion des Königsreichs Hannover besiegelte die Verpreußung Deutschlands. Wären die Deutschen bis dahin stolz gewesen, Westfalen oder Hannoveraner zu sein, so wären sie nun zu Nationalisten geworden. Die Ursachen waren laut Röpke der Zentralismus Preußens und die Politik Bismarcks,[3] die Hitler den Weg ebneten.
Drei Revolutionen
Zur Lösung der deutschen Frage fordert Wilhelm Röpke drei Revolutionen. Eine moralische Revolution soll zur Umkehr und Wiedergeburt Deutschlands führen; der großpreußische Weg habe sich als Sackgasse erwiesen. Die wirtschaftlich-soziale Revolution ist antikollektivistisch ausgerichtet; Freiheit, Marktwirtschaft und konservative Werte sind Trumpf. Die politische Revolution setzt auf konsequente Dezentralisierung: „Entpreußung“; die Gesellschaft soll von unten nach oben aufgebaut werden.
Bereits im Spätherbst 1945 arbeitet Wilhelm Röpke an einer zweiten Auflage von Die deutsche Frage. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Potsdamer Konferenz plädiert er für eine westdeutsche Konföderation – unter Verzicht auf eine Zentralverwaltung und auf der Grundlage selbstverwalteter Gemeinden. Föderalismus sei ein wirksames Mittel gegen Sozialismus, denn so wie der Sozialismus nach innen unvereinbar sei mit Freiheit und Föderalismus, so sei er auch unverträglich nach außen mit echter wirtschaftlicher Integration. Politische Zugeständnisse an die russische Bedrohung lehnt Wilhelm Röpke als Wiederholung der Befriedungspolitik ab, eine Ostbindung ist für ihn daher keine Option. Freiheit im Westen hat für Wilhelm Röpke Vorrang vor Gleichheit im Osten. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Deutschlands soll durch volle Freizügigkeit und freien Handel mit dem Ausland erreicht werden. Die Denazifizierung soll so schnell wie möglich abgeschlossen und der Staat als Hüter des Rechts wiederhergestellt werden. Zunächst aber ist die deutsche Frage eine Kalorienfrage.
Als Wilhelm Röpke im September 1946 anläßlich eines Besuchs bei Walter Eucken in Freiburg zum ersten Mal seit 1933 wieder deutschen Boden betritt, erlebt er sozialistisches „Wirtschaften“ in seiner letzten Phase: Die Preise haben ihre Signalfunktion verloren, alle Leistungsanreize sind gelähmt. Wilhelm Röpke begreift diesen Zustand tiefgreifender Dysfunktionalität der Wirtschaftsordnung als „zurückgestaute Inflation“[4].
Zur Jahreswende 1948 erscheint die dritte Auflage von Die deutsche Frage. Sie enthält ein aktualisiertes Schlußkapitel und eine kritische Bilanz der vergangenen zwei Nachkriegsjahre. Die wirtschaftlichen Probleme müßten überwunden werden, sonst würde die amerikanische Hilfe durch den Marshall-Plan wirkungslos verpuffen. Die deutsche Einheit hält Wilhelm Röpke erst dann für möglich, wenn der Weltkampf der Systeme entschieden ist. Das wäre dann auch die Lösung der deutschen Frage.
Gegen den europäischen Zentralismus
Wilhelm Röpkes Beiträge zur europäischen Integration sind hochaktuell. Bereits in den 1950er Jahren warnte er vor einem Zentralismus, der der europäischen Geschichte widerspreche und den europäischen Geist der Einheit in Vielheit kommunaler, föderaler und nationaler Bezüge zerstöre. Röpkes Argumente gegen den wohlfahrtsstaatlichen Fiskalsozialismus sind von zeitloser Gültigkeit. Der Wohlfahrtsstaat degradiere die Menschen zu Taschengeldempfängern und erweise sich bei näherem Hinsehen als Illusion. Da der Wohlfahrtsstaat defizitär sei, wirke er nicht nur inflationär, sondern belaste auch die nachfolgenden Generationen.
Wilhelm Röpke sieht die Wissenschaft in der Verantwortung, das Ganze im Blick zu behalten und nicht nur ökonomische Aspekte zu betrachten. Aufgabe der Wissenschaft sei es, Politik und Öffentlichkeit zu beraten und aufzuklären sowie zur rationalen Klärung von Werturteilen beizutragen. Röpkes Idealbild der civitas humana ist von Ausgleich und von Mäßigung geprägt. Da der Bezugspunkt der Wissenschaft der Mensch und die ihm gemäße Ordnung sei, sei sie moralisch und normativ. Daraus folgt, daß diese menschengemäße Ordnung die Marktwirtschaft sei.
Wilhelm Röpke war ein überzeugter Anhänger der Marktwirtschaft und des Freihandels.
„Die Marktwirtschaft löst die soziale Frage durch Wohlstand für alle.“[5]
Bereits im Jahr 1945 postulierte er in seinem Buch Die deutsche Frage die Einführung einer Marktwirtschaft, die Etablierung eines Föderalismus sowie die Westbindung Deutschlands. Nur mit diesen Erfolgsprinzipien der frühen Bundesrepublik war für ihn die deutsche Einheit erstrebenswert und die Wiedervereinigung möglich. Nach 1990 blieben diese Erfolgsprinzipien unbeachtet, so daß sich die Bundesrepublik in einem schleichenden Niedergang befindet. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates durch die Politik nimmt den Menschen nicht nur die Möglichkeit zur Eigenvorsorge, sondern führt auch zu wachsender Staatsverschuldung und Inflation. Die nicht marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik deindustrialisiert das Land. Schließlich wurde vergessen, daß ein Mittelweg zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus nicht existiert. In der Konsequenz muß sich Deutschland entscheiden, ob es den Weg einer marktwirtschaftlichen Ordnung einschlagen oder den Weg des Chaos beibehalten will. In Deutschland wurde keine republikanisch-freiheitliche Struktur mit kommunaler oder föderaler Souveränität etabliert. In erster Linie nach 1990 verlor die Westbindung an Verbindlichkeit. Die gemeinsamen westlichen sicherheitspolitischen Interessen und Werte wurden vernachlässigt. Heute ist die Bedeutung der civitas humana größer denn je. Wilhelm Röpke liefert die geistige und moralische Substanz zur Selbstbestimmung und zur Selbstbehauptung des Westens.
„Wilhelm Röpke war nicht nur ein großes Talent, sondern auch ein Charakter – der beherzte Mut, der das geschriebene und gesprochene Wort dieses Humanisten, seinen ständigen, unerschrockenen Kampf für die Werteordnung der freien Gesellschaft kennzeichnete und adelte, wurzelte in einer sittlichen Entscheidung einer Persönlichkeit: ‚Ich hab’s gewagt!’“[6]
Burkhard Sievert engagiert sich als Sektionsleiter in der Atlas Initiative. Von Anthony de Jasay übersetzte er die Bücher Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer, Gegen Politik, Der Indische Seiltrick und die Politische Philosophie. Das Buch Liberalismus neu gefasst von Anthony de Jasay legte er neu auf. Von Ludwig von Mises brachte er das Buch Allmächtiger Staat als deutsche Übersetzung heraus. Zuletzt erschien von Wilhelm Röpke das Buch Die deutsche Frage als Nachdruck der dritten veränderten und erweiterten Auflage.
Verwendete Literatur
Bismarck, Otto von (1924/1925): Gesammelte Werke, Bd. 9, Berlin.
Habermann, Gerd (2013): Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion, München.
Hayek, Friedrich August (2011): Der Weg zur Knechtschaft, München.
Hennecke, Hans Jörg (2005): Wilhelm Röpke – Ein Leben in der Brandung, Stuttgart.
[1] Wilhelm Röpke an Werner Bär, 25.1.1942, in Nachlaß Röpke, Ordner „Briefe (1940–1942)“. Zitiert in: Röpke (2005), S. 133.
[2] Vgl. Hayek (2011): Der Weg zur Knechtschaft, S. 211 f.
[3] „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“, Bismarck (1924/1925): Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 195 f. Zitiert in: Habermann (2013): Der Wohlfahrtsstaat – Ende einer Illusion, S. 181.
[4] Lehren des dt. Wirtschaftsmarasmus, in: Neue Züricher Zeitung vom 26.10.1946 und 27.10.1946. In Röpke (2005), S. 168.
[5] Röpke (1931): Der Weg des Unheils, S. 16. Zitiert in: Röpke (2005), S. 80.
[6] Neue Züricher Zeitung, 14.2.1966: Ein Kämpfer für die Freiheit. Zum Tode von Wilhelm Röpke. Zitiert in: Röpke (2005), S. 245 f.