Nicht jeder Mensch hat zum Zeitpunkt der Geburt die gleichen Chancen auf ein gutes Leben. Einige haben bessere Startbedingungen als andere, etwa wenn sie in reiche Familien hineingeboren werden. Muss und kann der Staat daher für gleiche Startbedingungen für alle sorgen?
Die Gewährleistung der Chancengleichheit ist eines der wichtigsten Versprechen des westlichen Wohlfahrtsstaates, der als eine Art Synthese von Kapitalismus und Sozialismus gesehen wird: Wenn die Politik schon nicht eine Gleichheit aller Menschen im Ergebnis herbeiführen kann, wie es der Sozialismus vorsieht, dann soll sie ihnen zumindest allen die gleichen Startbedingungen für das teilmarktwirtschaftliche System bieten, sodass niemand von Geburt aus benachteiligt wird. Was zunächst einleuchtend, fair und einfach umsetzbar erscheinen mag, ist in Wahrheit viel komplizierter als man denkt.
Ein erstes Problem tritt bereits bei der Definition der angeprangerten Ungerechtigkeiten auf: So etwas wie eine objektive Beurteilung der Chancen gibt es nämlich gar nicht. Die Startchancen eines jeden hängen nicht nur – wie das die Forderungen nach einer progressiven Einkommens-, Erbschafts- und Vermögenssteuer implizieren – vom monetären Einkommen und Vermögen der Familie ab, in die man hineingeboren wird. Viele weitere Faktoren, die nicht umverteilt werden können, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: die Gesundheit, das Aussehen, eine intakte und liebevolle Familie, eine gute Ausbildung und Erziehung, die Intelligenz, der Charakter, die persönliche Einstellung, die Arbeitsethik und viele weitere Aspekte. Zu meinen, man könne durch eine Umverteilung von materiellen Dingen eine Chancengleichheit herstellen, ist daher illusorisch.
Das wohlfahrtsstaatliche Konzept der Chancengleichheit führt vielmehr zu einer problematischen Politisierung der Gesellschaft, weil es im Prinzip erfordern würde, dass jeder angebliche Benachteiligte Ansprüche auf eine Kompensation gegenüber angeblichen Privilegierten stellen könnte: Weniger Schöne könnten dann beispielsweise eine monetäre Kompensation von den Schöneren verlangen. Genauso die schlecht Erzogenen von den besser Erzogenen, und Menschen in Entwicklungsländern von Menschen in Industrieländern. Dabei wäre jedoch unklar, ob dann weniger schöne und schlecht erzogene Zeitgenossen in Industrieländern auch einen Anspruch auf Kompensation von den guterzogenen Schönlingen in Entwicklungsländern hätten. Die Idee der Chancengleichheit birgt somit das Potenzial für ein Hochschaukeln der willkürlichen Umverteilung, die absurde Züge annehmen kann und viele neue Ungerechtigkeiten schafft.
Warum führt monetäre Umverteilung nicht zu einer faireren Gesellschaft? Stellen wir uns einen übergewichtigen, unglücklichen, unschönen und einsamen Mann vor, dessen einzige Freude im Leben sein höheres Einkommen darstellt. Soll man diesem Herrn nun die Früchte seiner Arbeit entreissen, um es an den weniger verdienenden aber dafür umso besser aussehenden, glücklichen und gesunden Mann umzuverteilen? Solche Enteignungsübungen unter der Flagge der «sozialen Gerechtigkeit» ziehen selten die individuellen Auswirkungen der staatlichen Zwangsumverteilung in Betracht. Das kommt daher, dass nicht auf den realexistierenden einzelnen Menschen, sein Schicksal und sein Potenzial geschaut, sondern lediglich in plumpen und materialistischen Aggregaten von «reich» und «arm» gedacht wird.
Nicht nur aus Sicht der Fairness ist das Konzept der Chancengleichheit kritisch zu beurteilen. Auch angesichts der schädlichen Auswirkungen auf den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand gilt es, diese «heilige Kuh» zu hinterfragen. Die Umverteilung, welche das Chancengleichheits-Paradigma zur Folge hat, mindert ganz konkret die Lebensstandards aller Gesellschaftsmitglieder. Es zerstört die entsprechenden Anreize zur Wohlstandsbildung. Je mehr Gelder zur angeblichen Gewährleistung der Chancengleichheit umverteilt werden, desto stärker verringert sich der Anreiz, Geld durch Arbeit zu verdienen, weil die Attraktivität einer solchen Tätigkeit durch die Besteuerung verringert wird. Das Nichtstun wird attraktiver. Die produktive Tätigkeit zum Nutzen anderer Gesellschaftsmitglieder hingegen erscheint weniger vorteilhaft. Es werden der Allgemeinheit daher tendenziell weniger nützliche Güter und Dienstleistungen offeriert. Die relative Armut steigt.
Auch wird durch diese wohlfahrtsstaatliche Zwangsumverteilung unter dem Banner der Chancengerechtigkeit – typischerweise in Form von progressiven Einkommens-, wie auch von Vermögens- und Erbschaftssteuern – der sofortige Konsum auf Kosten der Ersparnisbildung gefördert. Dies, weil von denjenigen, die überschüssige Mittel erarbeitet haben und diese ansonsten angelegt hätten, an jene umverteilt wird, die diese Gelder tendenziell sofort konsumieren. Damit wird gesamtgesellschaftlich weniger gespart und investiert, was die künftige Güterproduktion vermindert und damit zu niedrigeren Lebensstandards führt. Denn wenn weniger investiert wird, entstehen weniger Jobs und weniger Möglichkeiten auf eine gutbezahlte Arbeit, was folglich auch den künftigen Konsum vermindert. Ausserdem kann die Effizienz der Produktion nicht verbessert oder aufrechterhalten werden, was die künftige Produktion ebenfalls verkleinert.
Erbschaftssteuern sind dabei ganz besonders problematisch. Sie unterhöhlen den nicht zu unterschätzenden Wert der Familie, weil die Steuer den Eltern den Ansporn nimmt, ihren Kindern möglichst viel von ihren Ersparnissen zu hinterlassen. Es wird dann darauf hinauslaufen, dass die Eltern vermehrt darum bemüht sein werden, ihr Vermögen zu Lebzeiten aufzubrauchen, statt es zukunftsträchtig zu investieren, weil es ansonsten ja durch die Steuer grösstenteils «verloren» ginge. Das langfristige Denken kommt abhanden und der Generationenegoismus nimmt zu. Die Politik der Chancengleichheit vernichtet also ganz konkret Chancen.
Auch die Verstaatlichung der Bildung, die unter dem Deckmantel der Chancengleichheit vollzogen wurde, ist nicht frei von Problemen. Diese führt aufgrund des verzerrten und de facto abgeschafften Wettbewerbs dazu, dass die Qualität abnimmt und die Preise für die Bildung ansteigen. Qualitativ hochstehende Alternativen wie Privatschulen können sich in der Folge nur noch die Vermögenden leisten, weil die restlichen Bürger zur Finanzierung der unterdurchschnittlichen staatlichen Schulen gezwungen werden und danach oft kein Geld mehr übrig bleibt, um auch noch den Preis eines weiteren Bildungsangebots zu bezahlen. Diese Umstände tragen keinesfalls zur Chancengleichheit bei, sondern verschärfen die Ungleichheit.
Eine echte Politik der Chancengerechtigkeit sollte aufgrund dieser Nachteile nicht auf eine Umverteilung von rechtmässig erarbeiteten und erworbenen Mitteln abzielen, sondern vielmehr auf die Abschaffung gesetzlicher Sonderprivilegien für einzelne Gruppen. Primär sind es nämlich solche Gesetze, welche Individuen und Unternehmen Chancen verbauen. Beispielsweise, indem sie diese mit Zwang am Markteintritt hindern, um die Konkurrenz zu schützen, welche sich durch entsprechendes Lobbying beim Gesetzgeber die ungerechten Vorteile erschlichen hat. Der Staat sollte darum besorgt sein, dass vor dem Gesetz alle gleich behandelt werden und dass niemand mit staatlicher Gewalt am persönlichen und beruflichen Aufstieg gehindert wird.