Eine der «heiligen Kühe» jeder Demokratie ist der feste Glaube an ein universelles und gleiches Wahlrecht aller Bürger. Und doch gibt es Menschen, die sich gegen ein solches universelles «Recht» aussprechen. Die hier geäusserten Vorbehalte beruhen jedoch nicht — wie man vielleicht vermuten würde — auf einer Diskriminierung nach Geschlecht, Alter oder Eigentum. Einer dieser Querdenker war der berühmte britische Gesellschaftsphilosoph und Nationalökonom John Stuart Mill. In seinem Buch Reflections on Representative Government aus dem Jahr 1859 argumentiert Mill, dass den Empfängern von Armenfürsorge das Wahlrecht entzogen werden sollte — zumindest solange sie diese steuerbasierten Unterstützungsleistungen beziehen.
Mill begründet dies damit, dass der Empfang solcher Staatsleistungen in einen unausweichlichen Konflikt mit dem universellen Wahlrecht führen müsse. Schliesslich befähigt in diesen Fällen das Wahlrecht, über Geldmittel abzustimmen, welche anderen zum eigenen Vorteil «wegbesteuert» würden. Oder wie es Mill beschreibt: «Es ist erforderlich, dass die Versammlung, welche über die Steuern abstimmt, gleich ob allgemein oder lokal, ausschliesslich von jenen gewählt wird, die selbst etwas zu den auferlegten Steuern beitragen. Jene, die keine Steuern zahlen und mit ihren Stimmen das Geld anderer Menschen ausgeben, haben allen Grund dazu, verschwenderisch, und keinen, sparsam zu sein. Sofern es um Haushaltsfragen geht, bedeutet jegliches Stimmrecht solcher Menschen einen Verstoss gegen das grundlegende Prinzip einer freien Regierung. Es liefe darauf hinaus, ihnen zu erlauben, für jeden Grund ihre Hände in die Taschen anderer Leute zu stecken, der aus ihrer Sicht geeignet ist, als «öffentlich» bezeichnet zu werden.»
Mill erklärt weiter, warum er dies insbesondere für jene als zutreffend empfindet, die auf steuerfinanzierte, umverteilte Sozialleistungen angewiesen sind, welche im Grossbritannien des 19. Jahrhunderts durch die lokalen Gemeinden der englischen Staatskirche verteilt wurden: «Grundlegende Prinzipien machen es erforderlich, dass der Erhalt von Unterstützungsleistungen der Gemeinde zu einem zwingenden Ausschluss vom Wahlrecht führt. Jener, der sich nicht kraft seiner Arbeit selbst unterhalten kann, hat keinen Anspruch auf das Privileg, sich vom Geld anderer Leute zu bedienen. Diejenigen, denen er für den Erhalt seiner Existenz verpflichtet ist, können mit Recht Anspruch auf die alleinige Verwaltung jener öffentlichen Anliegen erheben, zu welchen er nichts beiträgt, oder weniger als er entnimmt. Als eine Voraussetzung für das Wahlrecht sollte eine Frist festgelegt werden — sagen wir, fünf Jahre vor dem Eintrag in das Wahlregister —, in welcher der Name des Antragstellers nicht als Empfänger von Unterstützungsleistungen in den Gemeindebüchern erscheint.»
Ich würde nahelegen, dass diese Argumentation auch auf all jene ausgeweitet werden könnte, die für den Staat arbeiten. Denn solange jemand beim Staat angestellt ist, lebt er direkt vom besteuerten Einkommen und Vermögen anderer. Sollte nun jemand erwidern, Staatsangestellte würden ja auch Steuern bezahlen, so lautet meine Antwort: Wenn du vom Staat ein Gehalt in Höhe von 100 CHF erhältst, und davon — sagen wir — 30 CHF Steuern abführst, bleibst du doch immer noch Netto-Empfänger von 70 CHF aus dem Einkommen anderer Menschen — und trägst somit selbst nichts zu den Unkosten des Staates bei. Führt man diese Logik noch ein wenig weiter, könnte man sogar argumentieren, dass dieselbe Regel auch auf all jene zutreffen müsste, die von Staatsausgaben in Form öffentlicher Aufträge und Subventionen leben. Aus Gründen derselben Interessenskonflikte sollten also auch sie vom Wahlrecht ausgeschlossen werden.
Natürlich ist es möglich, dass solche Menschen und ihre Unternehmen nicht vollständig für ihren Unterhalt von öffentlichen Ausgaben abhängig sind. Es könnte darum eine Regel eingeführt werden, dass ein Wahlrecht nur vergeben wird, wenn ein Individuum oder Unternehmen nicht mehr als — sagen wir beispielsweise — 10% seines Bruttoverdienstes aus staatlichen Mitteln, welcher Art auch immer, bezieht. Wäre eine solche Wahlrechtsbeschränkung schon vor 100 Jahren in Kraft gewesen, wäre der Staat wohl nie zu jener Grösse — und zu jenen Kosten — herangewachsen, die heute der Fall sind. Umgekehrt fällt es schwer sich vorzustellen, dass der heutige gigantische interventionistische Wohlfahrtsstaat von langer Dauer wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, eine solche Wahlrechtsverschränkung einzuführen. Zweifellos würde der Staat rasch auf ein sehr viel beschränkteres und weniger zudringliches Mass reduziert werden.
Das Dilemma besteht also heute darin, um es in John Stuart Mills Worte zu fassen, dass wir über ein politisches System verfügen, in dem viele, die im Besitz des Wahlrechts sind, dieses dazu verwenden, «für jeden Grund ihre Hände in die Taschen anderer Leute zu stecken, der aus ihrer Sicht geeignet ist, als „öffentlich“ bezeichnet zu werden.» Frédéric Bastiat beschrieb unsere heutige Lage treffend, als er feststellte: «Der Staat ist die grosse Fiktion, nach der sich jedermann bemüht, auf Kosten jedermanns zu leben.» Wenn es uns nicht gelingt, dieser Lage zu entkommen, werden wir in den nächsten Jahren eine fiskalische und allgemeine soziale Krise durchleben, die sich zutiefst zerstörerisch auf unsere Gesellschaft auswirken wird.
Der Autor ist Professor für Ökonomie an der Universität Northwood und Mitglied des Akademischen Beirats des Liberalen Instituts.