Wer Kapital besitzt, kann es in der Regel dazu verwenden ein fortlaufendes Einkommen daraus zu erzielen. Doch woher und warum empfängt der Kapitalist jenen Güterzufluss? Diese Frage geht dem Kern des Zinsproblems auf den Grund. Allerdings hat man sich ihrer zufriedenstellenden Beantwortung in der wirtschaftswissenschaftlichen Ideengeschichte aufgrund historischer Missverständnisse — von der Antike, über das christliche Mittelalter, bis hin zu Marx — nur langsam annähern können.
Wer im Zins ein Einkommen ohne Gegenleistung oder sogar ein Zeichen für die Ausbeutung der Arbeiterklasse erblickt, wird viel eher dazu neigen, ihn zu bekämpfen und zu unterdrücken. Wer sich der Komplexität und des enormen Geltungsbereichs des Zinsphänomens nicht bewusst ist; wer es lediglich auf einen Gleichgewichtspreis im Kreditmarkt reduziert, ohne dessen weitreichende realwirtschaftliche Grundlage zu beachten, der wird eher dazu bereit sein, den Zins gezielt zu manipulieren und als politisches Mittel einzusetzen.
Es war der grosse Verdienst der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, den Kreditmarkt als einen Ausschnitt des gesamtwirtschaftlichen Marktes für Ersparnisse herauszuarbeiten, sowie ihr verbindendes Element — die Zeitpräferenz — in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Erkenntnis wurde jedoch von der einflussreichsten Strömung der modernen Wirtschaftswissenschaften, dem Keynesianismus, abgelehnt, die den Zins wieder zunehmend isoliert betrachtet — als einen blossen Gleichgewichtspreis, der sich am Geldmarkt aus dem Zusammenspiel von Geldnachfrage und Geldangebot bilde. Dies stellt einen tragischen wirtschaftswissenschaftlichen Rückschritt dar. Eine langfristig stabile und prosperierende Wirtschaft braucht einen freien Kreditmarkt ohne Zinsmanipulation durch Zentralbanken.
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