Dass der Wert der Freiheit einmal negativ beurteilt werden würde hätten sich viele von uns kaum vorstellen können. Und doch ist es so weit gekommen. «Freiheit ist Egoismus» ist eine Gleichsetzung, die in gewissen Kreisen auf breite Zustimmung stößt. Dabei leben wir nicht in einem sozialistischen oder kommunistischen System, sondern – vordergründig – in einer rechtsstaatlichen Demokratie und einer (halbwegs) freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die uns den real existierenden Wohlstand ermöglicht haben.

Woher also kommt diese Idee, dass es gut wäre, Freiheit zu begrenzen? Ein Teil der Erklärung liegt in der Tatsache begründet, dass wir heute erstmalig in der Menschheitsgeschichte(!) in einer Gesellschaft leben, in der drei und mehr Wertesysteme gleichzeitig existieren. Eine sehr gut nachvollziehbare Beschreibung dieser Tatsache bietet das Konzept von «Spiral Dynamics». Der amerikanische Wissenschaftler Clare Graves hat in den 80er Jahren diese unterschiedlichen Ebenen erstmals beschrieben und ein Modell dazu entwickelt (auch Bestandteil der Integralen Theorie von Ken Wilber). Das Modell beschreibt, wie sich Menschen und Gesellschaften im Lauf ihrer Entwicklung auf unterschiedlichen Werteebenen bewegen und wie eine Gruppe die andere kaum verstehen kann. Und hier liegt die Problematik unserer Gesellschaften: vor allem in Europa, den USA und Kanada haben wir es parallel mit drei sehr unterschiedlichen Wertesystemen und Weltbildern zu tun, die sich heute immer stärker voneinander abgrenzen.
Die aktuell erlebten drei Ebenen im «Wertewesten» sind (in knapper Darstellung):
Die Ebene ‹Ordnung, Recht und Gesetz›: Das Wichtigste ist, dass das Zusammenleben der Menschen durch einen klaren Ordnungsrahmen bestimmt wird. Fehlverhalten wird konsequent geahndet. Der Einzelne fühlt sich sicher, gemeinsam ist man stark. Die Freiheit des Einzelnen ist innerhalb des Rahmens von Gesetz und Ordnung garantiert. Das gemeinsam Erreichte ist wichtiger als das unbekannte Neue. Religion und Tradition spielen eine wichtige Rolle (politisch: rechts-konservativ).
Die Ebene ‹anything goes›: Jeder ist seines Glückes Schmied, jeder kann erfolgreich sein, wenn er sich nur genügend anstrengt. Wettbewerb zwischen Menschen und Unternehmen prägt Wirtschaft und Gesellschaft; persönlicher Erfolg, Effizienz und Leistung sind treibende Kräfte, Selbstoptimierung wird zur Pflichtübung für viele. Technische Erfindungen erleichtern und verändern unser Leben, wirken sich aber auch auf das Ökosystem und den Planten aus. Religion und Tradition werden zu Gunsten der Wissenschaft getauscht (politisch: (neo-)liberal)
Die Ebene des ‹Pluralismus›: Jeder und alles wird akzeptiert und hat ein Recht darauf, sein ‹Ding› zu leben. Der Einzelne übernimmt größere Verantwortung für sein Tun im Hinblick auf Umwelt, Randgruppen, Ethik. Konsens geht vor Diskurs, Gefühle sind wichtiger als Rationalität. Gesetze und Struktur (z. B. Ländergrenzen) sind ‹old school›, denn keiner möchte sich etwas vorschreiben lassen und wenn alle Menschen gleich sind, so braucht es keine Länder mehr. Es gibt keine absolute Wahrheit, jeder hat mit seiner eigenen (gefühlten) Wahrheit grundsätzlich recht. Man erlebt sich als moralisch höherstehend, Political Correctness oder Wokeness werden zu einer Art Religion (politisch: links-grün, Identitätspolitik).
(Durch die Zuwanderung existieren noch weitere Ebenen, vor allem die Stammesebene mit dem Wert der Ehre an oberster Stelle, doch dies wird hier nicht weiter ausgeführt).
Individuelle Freiheit für breite Kreise der Bevölkerung wurde erstmals in der Ebene ‹anything goes› populär und auch möglich. Wie z.B. Erich Fromm in «Die Furcht vor der Freiheit» beschreibt, erfolgte dies beim Übergang von der Adels- und Standesgesellschaft hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Die individuelle Freiheit löste die starren Regeln der Stände sowie der kirchlichen Gebote und Normen langsam ab und erlangte im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit. Die Erfolge waren und sind grandios, der Wohlstand der Gesellschaften erscheint in den Ländern, die diese individuelle Freiheit als Basis hatten, aus Sicht früherer Generationen unvorstellbar. Und doch muss diese Idee heute verteidigt werden.
Die Antwort führt uns ein Stück weit in die Psychologie, auf den «Schatten» der jeweiligen Werteebene. Da in Medien, Universitäten und vielfach auch den Parteien die pluralistische Ebene vorherrscht, konzentrieren sich hier die Überlegungen auf genau diese (wobei auch alle anderen Ebenen ihre Schatten haben!). Der «Schatten» ist eines der zentralen Konzepte in C. G. Jungs Psychologie. Er beschreibt damit jene Anteile unserer Persönlichkeit, die wir vor uns selbst und anderen verbergen oder verdrängen – quasi die «dunkle Seite» unseres Selbst. Vereinfacht gesagt entsteht er, wenn psychische Prozesse nicht vollständig abgeschlossen wurden oder zum damaligen Zeitpunkt nicht adäquat verarbeitet werden konnten. Sie werden verdrängt, da diese Anteile im Widerspruch zu unserem Selbstbild stehen. Dies können aggressive Impulse, als negativ bewertete Emotionen, egoistische Wünsche oder gesellschaftlich nicht akzeptierte Verhaltensweisen sein. Häufig beinhaltet der Schatten das, was wir als böse, schlecht oder unmoralisch bewerten. Wir neigen allerdings dazu, unsere eigenen Schattenaspekte auf andere Menschen zu projizieren. Was uns an anderen besonders stark abstößt, kann ein Hinweis auf eigene verdrängte Anteile sein (Projektionsmechanismus).
Die wichtigsten Aspekte der Werteebene pluralistisch sind Konsens statt Konflikt, Kooperation statt Wettbewerb, Gleichberechtigung, Harmonie, Nachhaltigkeit (die Erweiterung der eigenen Verantwortung weg vom unmittelbaren Umfeld hin zum gesamten Planeten). Unschwer lässt sich erkennen, dass viele dieser Werte für die Gesellschaft hilfreich sein können. Die Ausbeutung der Natur (deren Kosten im kapitalistischen System per se nicht enthalten sind) führt zu großen Folgeschäden für künftige Generationen. Das Streben nach mehr Gleichberechtigung begann Ende der 60er Jahre und wird heute niemand mehr in Frage stellen (nicht: Gleichstellung!). Auch das Streben nach Harmonie – das auch in spirituellen Kreisen zentral ist – würde uns insgesamt helfen. So weit, so gut. Doch nun zu den Schattenanteilen dieser Ebene.
Um diese besser verstehen zu können hilft der Begriff des «performativen Widerspruchs». Der sperrige Begriff beschreibt den Umstand, dass der Inhalt einer Aussage im Widerspruch zu dem steht, was er als Vorbedingung voraussetzt. Vieles davon basiert auf der Philosophie des Dekonstruktivismus (Derrida, Foucault). Beispiele: Die Praxis der «Cancel Culture», bei der Menschen wegen Fehlverhaltens oder unerwünschter Meinungen öffentlich geächtet werden, steht im Widerspruch zur Idee der Toleranz (diese gilt nur für Menschen, die dieselben Werte vertreten – außer sie gehören anderen Kulturen an, dann wird alles grundsätzlich akzeptiert). Dies ist ein fundamentaler Widerspruch zum eigenen Wert der Gleichberechtigung. Oder: Die Anstrengungen, westliche Konzepte von Gender und Identität global zu exportieren, können als eine Form des «moralischen Kolonialismus» gesehen werden, was in Widerspruch zu den Prinzipien der Selbstbestimmung und kulturellen Sensibilität steht. Man propagiert Werte wie Vielfalt, Relativismus und Gleichheit, neigt aber dazu, absolutistische Moralansprüche zu stellen, andere Wertehierarchien zu delegitimieren (z. B. die konservative Ebene). Man fordert Respekt für alle Perspektiven, wertet jedoch traditionellere oder andersartige Perspektiven als «falsch» oder «unzureichend» ab. Die behauptete moralische Überlegenheit, die jeden Dialog mit «moralisch Tieferstehenden» abblockt, steht im Widerspruch zur Suche nach Konsens.
Bei all diesen inneren Widersprüchen gibt es einen, der absolut grundlegend ist. Denn die Prämisse dieses postmodernen Schattens ist: Es gibt keine absolute Wahrheit. Jedoch ist diese Aussage absolut wahr… Damit bricht das gesamte Gebäude bereits an ihrem Fundament zusammen.
Diese Beschreibung der performativen Widersprüche ist nicht vollständig, gerade im Bereich der sogenannten «Wokeness» finden sich noch mehr innere Konflikte. All dies wäre nicht von großer Bedeutung, wenn es nicht unseren gesellschaftlichen Dialog sowie die Politik massiv bestimmen würde (no borders, no countries; Identitätspolitik; sozialistische Ideen; negative Konnotation von Eigentum usw.). Um dies besser einordnen zu können ist es notwendig, eine zweite Komponente zu betrachten: Macht.
Wie anders wäre es zu erklären, dass zahlenmäßige Randgruppen ohne große mediale Reichweiten (z. B. Transpersonen, Migranten, People of Colour …) eine derartige öffentliche Wirkung entfalten können, wie es seit einigen Jahren zu beobachten ist? Die Erklärung: die Think Tanks der Eliten machen sich gesellschaftliche Strömungen (Pluralismus, Dekonstruktivismus) zu Nutze, lenken und verstärken sie geschickt um die eigenen Ziele zu erreichen. Dies mag überraschend klingen, doch bei genauerem Hinsehen wird es nachvollziehbar.
Unter der Ausnutzung des an sich positiven Wertes der Gleichberechtigung wurde das woke Konzept des «Es darf keine Unterschiede geben», (das an sich schon einen inneren Widerspruch darstellt) massiv penetriert. Durch mediale Power konnte es in viele Köpfe eingebaut werden. Oder: Die identitätsstiftende Muttersprache wird von ihrer intuitiven Verwendung entkoppelt, in dem das Konzept der Gendersprache erfunden wurde. Die Idee eines Vaterlandes wurde torpediert, in dem die Idee von souveränen Ländern als ewiggestrig und «rechts gleich Nazi» gebrandmarkt wurde. Christliche Religion befindet sich massiv auf dem Rückzug, dafür wurde die Klimareligion eingeführt, die seither das Gewissen der Menschen mehr prägt als die meisten Gebote.
Wenn Menschen die Säulen ihrer Identität sowie ihren Zusammenhalt verlieren, so werden sie beliebig steuer- und kontrollierbar. Die wichtigsten Säulen – die auch den vertrauensvollen Zusammenhalt erschaffen – sind: Herkunft, Familie, Kultur (inkl. Werte), Religion, biologisches Geschlecht, Sprache, Ethnie, Beruf/Ausbildung. Man überlege, welche dieser Säulen in den letzten Jahren keinen Angriffen ausgesetzt war!
Die Machthaber nutzen also den Wunsch der meisten Menschen, «gut» sein zu wollen, gnadenlos für ihre Ziele aus. All die Menschen mit primär grünen, linken, woken Überzeugungen wollen sich vor allem gut fühlen, auf der richtigen Seite stehen. Sie bemerken nicht, wie sie korrumpiert und manipuliert werden. Sie machen sich zu den Handlangern derer, die sie eigentlich bekämpfen wollen: den Machteliten dieser Welt. Ermöglicht durch die Finanz- und Medienmacht eben dieser Kreise. Ein absurdes Schauspiel.
Doch – wie meist – gibt es Hoffnung! Denn noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten so viele von uns die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zu publizieren! Die Gatekeeper-Funktion der großen Medien schrumpft immer weiter. Noch nie war das Vertrauen in diese Medien (und damit die Deutungshoheit) geringer als heute. Deshalb all die Zensurgesetze. Noch nie gab es eine so große Zahl an Menschen, die die Propaganda und Manipulationen durchschauen – seit Corona mehr als je zuvor. Noch nie haben so viele Menschen an der Entwicklung ihres Bewusstseins gearbeitet und erkannt, dass mind over matter gilt. Und noch nie gab es die heute vorhandenen technischen Möglichkeiten, sich zu finden und zu vernetzen.
Wenn es nun noch gelänge, möglichst vielen klar zu machen, dass es völlig in Ordnung ist, unterschiedliche Werte zu haben, dass sie deshalb keine schlechten Menschen sind und nicht bekämpft werden müssen, dann käme das «divide et impera» an sein Ende. Und womöglich hat diese Zeitenwende bereits begonnen! Die Wahlergebnisse in vielen Ländern, allen voran Argentinien und USA, lassen hoffen, dass die schweigende Mehrheit künftig ihre Werte wieder selbstbewusst vertritt. Was noch fehlt, das ist mehr Mut. Der Mut, zu sich und seinem Standpunkt zu stehen und ihn klar zu vertreten. Selbst wenn dies potenziell Statusverlust bedeuten könnte. Denn eines ist klar: so wie 1945, als plötzlich niemand in der Partei gewesen sein wollte, wird es auch diesmal wieder sein: man hätte es schon immer gewusst, nur nichts dazu gesagt. Doch wenn man nicht jetzt Klartext spricht: wann dann?
Der Autor hat zu diesem Thema kürzlich auch einen Roman mit dem Titel «Hinter der Zukunft» veröffentlicht, das hier auch als Hörbuch erschienen ist.