Mein »Liberty Road Trip«, der mich auf vier Kontinente und in 30 Länder führen soll, beginnt am 12. April 2022 in der Schweiz. Laut dem »World Happiness Report 2023« zählt die Schweiz zu den zehn glücklichsten Ländern der Welt. Und sie ist ein wohlhabendes Land – das durchschnittliche Vermögen beträgt 685.000 Dollar pro Kopf. In Deutschland sind es nur 256.000 Dollar und in den USA 551.000 Dollar. Freilich hat diese Durchschnittszahl auch etwas mit der hohen Millionärsdichte zu tun. Von den 8,7 Millionen Schweizern ist jeder achte (1,1 Millionen) Dollar-Millionär. In Deutschland, gemessen an der Einwohnerzahl fast zehnmal so groß wie die Schweiz, lebten 2022 »nur« 2,6 Millionen Millionäre. Somit ist etwa jeder 32. Deutsche ein Millionär.
Eingeladen hat mich das Liberale Institut zu einem Vortrag an der Universität Zürich. Die Schweiz ist ein guter Ausgangspunkt für meinen Liberty Road Trip, denn im Index der wirtschaftlichen Freiheit steht sie auf Platz zwei von 176 Ländern, nur 0,1 Punkte hinter dem Spitzenreiter Singapur. Das Land hat Spitzenwerte in den Kategorien »Property Rights«, »Judicial Effectiveness«, »Fiscal Health« und »Government Integrity«. Das Gesamtergebnis wäre noch besser, wenn der Staat nicht zu viel Geld ausgeben würde und es weniger staatliche Regulierung im Arbeitsmarkt gäbe.
In der Schweiz lässt es sich gut leben
Dennoch: Die Schweiz ist das kapitalistischste Land der Welt. In der Schweiz lässt es sich gut leben. Eine Freundin von mir, Jenna, wohnt seit vielen Jahren in dem Land. Sie möchte auf keinen Fall mehr nach Deutschland zurück. Ich war mit ihr vor 13 Jahren fest zusammen. Damals war sie 25 Jahre alt und leitet heute die Kommunikationsabteilung einer der renommiertesten Luxusmarken der Welt in Zürich. Ich lade Jenna – zusammen mit Isabelle, die mich auf meiner Reise nach Zürich begleitet – zum Abendessen beim Asiaten ein. Wir drei lieben asiatische Küche. Warum sie es in der Schweiz so toll findet? Einer der Gründe ist, dass sie hier fast drei Mal so viel verdient wie ihre Kollegen in Deutschland und dazu noch weniger Steuern zahlt. Sie bekommt hier etwa 10.000 Franken im Monat. »Natürlich sind auch die Lebenshaltungskosten höher, aber eben nicht drei Mal so hoch. Und die Steuern sind viel niedriger.«
Hohe Lebenshaltungskosten? Das bestätigt mir eine andere Bekannte, mit der wir am Vorabend Essen waren. Sie ist Arzthelferin, kommt aus Syrien und hat früher in Berlin gewohnt. Sie sagt, dass sie 5.800 Franken verdient – allerdings zahlt sie auch 1.400 Franken für eine winzige, 20 Quadratmeter große Wohnung.
Bevor ich mit meinem Vortrag starte, hält Olivier Kessler, der Leiter des Liberalen Instituts, ein kurzes Eingangsstatement, in dem er erklärt, warum die Schweiz gerade kein kapitalistisches, sondern ein halbsozialistisches Land sei. Er verweist auf die zahlreichen Regulierungen und Beschränkungen, die dem Geist der Marktwirtschaft widersprechen. Der Kapitalismus, so seine Argumentation, sei ein System, in dem die einzige Aufgabe des Staates darin bestehe, das Privateigentum zu schützen. Es herrsche unbeschränkte Vertragsfreiheit auf unbehinderten Märkten. Angesichts zahlreicher Staatseingriffe sei all dies in der Schweiz nicht der Fall. Seine Folgerung: »Wir leben in der Schweiz nicht im Kapitalismus.«
Fast alle seine Kritikpunkte teile ich. Aber den reinen Kapitalismus gibt es in keinem Land auf der Welt, und immerhin ist die Schweiz kapitalistischer als fast alle anderen Staaten. Ich selbst messe ein Land nicht in erster Linie an einem Ideal, sondern an anderen Ländern.
Direkte Demokratie: Vorteil oder Problem?
Das Publikum, etwa 100 Teilnehmer, besteht aus überzeugten Pro-Kapitalisten. Einer kam sogar mit dem »I love Capitalism«-T- Shirt, das ich manchmal bei Vorträgen trage (diesmal jedoch nicht). Nach dem Vortrag kommt ein Schweizer Ökonom, Hans Rentsch, auf mich zu und drückt mir ein Buch in die Hand: »Wie viel Markt verträgt die Schweiz?« Es ist ein skeptisches Buch, denn es zeigt, dass die schweizerische Politik in den vergangenen Jahrzehnten auf nationaler Ebene kaum je aus eigener Initiative marktwirtschaftliche Reformen angestoßen hat. Skeptisch sieht Rentsch auch die oft gelobte »direkte Demokratie« der Eidgenossen. Die Schweiz ist bei Anhängern der direkten Demokratie sehr beliebt, weil die Bürger über viele Themen direkt abstimmen. Oft erweisen sich die Schweizer dabei als klug, aber Rentsch führt auf vielen Seiten eine Menge Beispiele dafür an, dass seine Landsleute gegen mehr Marktwirtschaft und für mehr staatliche Beschränkungen der Freiheit gestimmt hätten, ob das nun die Liberalisierung des Strommarktes oder das Gesundheitswesen betrifft. Wenn die Schweiz ökonomisch erfolgreich sei im Vergleich zu anderen Ländern, so Rentsch, dann nicht wegen, sondern trotz der direkten Demokratie.
»Die staatsfreundliche und marktskeptische Grundhaltung der Bevölkerung hat politische Konsequenzen … In kaum einem vergleichbaren Land dürfte die Stromversorgung derart ausgeprägt von staatlichen Akteuren mit Mehrfachinteressen dominiert sein wie hierzulande durch die Kantone und Gemeinden mit ihren lokalen und regionalen Monopolen … In kaum einem anderen vergleichbaren Land verfügen die Staatseisenbahnen über eine so dominierende Marktstellung wie die SBB in der Schweiz … Auch im schweizerischen Gesundheitswesen sind der Markt und der Wettbewerb durch staatliche Regulierung weitgehend ausgeschaltet.«
Positiv sieht er dagegen den Wettbewerb der einzelnen Gemeinden und Kantone in der Schweiz, der viel Gutes bewirkt habe. Viele Bekannte von mir sind Anhänger der »direkten Demokratie«. Sie wollen, dass das Volk selbst unmittelbar entscheidet. Ich war da schon immer skeptisch, wobei ich zugeben muss, dass die Entscheidungen der gewählten Parlamentarier, zum Beispiel in Deutschland, auch nicht besser sind als die des Volkes. Aber die Deutschen sind anders als die Schweizer. 56 Prozent der Berliner haben 2021 für eine Enteignung großer Immobilienunternehmen gestimmt. Der Sozialismus ist wieder zurück. Auch in Deutschland.
Besuch in Zug
Isabelle ist auf Anhieb begeistert von der Schweiz, zumal alles hier sehr sauber ist und man sich sicher fühlt, auch wenn man nachts auf der Straße geht. Die Menschen sind viel gepflegter gekleidet als in Berlin. Am Tag nach meinem Vortrag fahren wir nach Zug. Die Stadt ist nur 40 Autominuten entfernt von Zürich. Ich mag Bahnfahrten nicht so sehr, sondern leiste mir einen Chauffeur in einem S-Klasse-Mercedes. Die Hinfahrt kostet 240 Franken. Zurück werden wir vom Chauffeur des Mannes gefahren, den wir besuchen. Es ist Hans-Peter Wild, der wie so viele aus Deutschland stammende Milliardäre in der Schweiz lebt.
Zug ist besonders beliebt, weil es als kleines Steuerparadies gilt. Hier haben renommierte und innovative Unternehmen ihr Domizil oder größere Niederlassungen – etwa der Lebensmittelkonzern Nestlé, Unternehmen in den Bereichen Biotechnologie und Handel oder auch viele Start-ups, die als »Crypto-Valley« der Schweiz an neuen Technologien arbeiten. Der Spitzensteuersatz des Kantons Zug liegt im Durchschnitt bei rund 23 Prozent – ein Traum für Steuerpflichtige in vielen anderen Ländern wie etwa Deutschland.
Hans-Peter Wild ist Inhaber von Capri-Sun, einer der weltweit führenden Marken für nicht-alkoholische Getränke. »Bedienen Sie sich gerne«, fordert uns seine Assistentin mit Blick auf einen Behälter auf, der Capri-Sun gekühlt in allen Geschmacksrichtungen enthält. Ich greife zu und fühle mich an meine Kindheit erinnert, als ich »Capri-Sonne« oft getrunken habe. Heute wird der charakteristische Getränkebeutel in 24 Ländern produziert und in mehr als 100 Ländern unter dem anglisierten Namen Capri-Sun verkauft. Aber in jedem Land, so erzählt Wild, haben die Menschen einen anderen Geschmack, und die Kunst liegt darin, das Produkt jeweils sehr individuell den lokalen Vorlieben anzupassen.
Wild fragt mich, ob ich ein besonderes Anliegen habe. Ich vermute, ihn besuchen oft Leute, die irgendetwas von ihm wollen. Sein Nettovermögen beträgt laut der Forbes-Liste 3,5 Milliarden Dollar. Nein, ich habe kein Anliegen. Ich freue mich einfach, ihn wiederzusehen und zu plaudern. Und Isabelle, die eine begeisterte Reiterin ist, freut sich, jemanden zu treffen, der in jüngeren Jahren selbst ein begeisterter Reitsportler war. Wild ist heute 80 Jahre alt und hat gerade seine Autobiografie geschrieben. Ich habe sie als erster gelesen, weil ich das Vorwort schreiben sollte. Besonders fasziniert hat mich, dass er durch die ganze Welt gereist ist, weil sein Unternehmen weltweit aufgestellt ist. Ich bin gerade etwas frustriert darüber, dass beispielsweise die Partner in Südamerika, die eine Reise nach Argentinien und Chile im nächsten Monat organisieren sollen, bisher langsam und wenig zuverlässig sind. Wir sind uns beide einig: Auch wenn das für pünktliche Menschen schwer ist – wir können die Welt nicht ändern. »Man muss sich ein sehr dickes Fell zulegen«, rät Wild. In seinem Büro steht ein riesiger Globus – ein Mann wie Wild, auch wenn er in einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern wohnt, denkt global.
»Mein Ziel war es von Anfang an, Capri-Sonne und WILD-Flavors zu Global Players zu machen. Man muss sich Ziele setzen und darf sie, trotz mancher Unwägbarkeiten auf der Strecke, nicht aus den Augen verlieren«, so Wild unter Nennung des zweiten von ihm aufgebauten Weltunternehmens, des Aromen-Herstellers WILD Flavors Inc. Sein Vater rechnete ihm vor, dass sein Unternehmen, wenn jeder in der damaligen Bundesrepublik nur eine einzige Capri-Sonne im Jahr trinkt, 60 Millionen Beutel verkaufen würde. Seine Mitarbeiter hielten solche großen Zahlen für unrealistisch, aber für Wild Junior waren sie zu klein. Sein Ziel war es, jedes Jahr weltweit mehrere Milliarden Capri-Sonne zu verkaufen – und er hat diesen Plan, den die meisten Menschen als »unrealistisch« oder gar »unmöglich« abgetan hätten, realisiert.
Kapitalismusskeptische Schweiz
Wie sieht die wirtschaftliche Zukunft der Schweiz aus? Für mein Buch »Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten« hatte ich 2021 eine Befragung in der Schweiz durchführen lassen. Das Ergebnis war, dass die Menschen in der als kapitalistisch geltenden Schweiz dem Kapitalismus ähnlich skeptisch gegenüberstehen wie in Deutschland. Die größte Zustimmung bei der Umfrage unter den Eidgenossen fanden die Aussagen, Kapitalismus führe zu steigender Ungleichheit und zu Monopolen, fördere Egoismus und Profitgier, die Reichen bestimmten die Politik und die Menschen würden zum Kauf von Produkten animiert, die sie gar nicht brauchten. Nur 21 Prozent der Schweizer sagten in der Umfrage, Kapitalismus bedeute wirtschaftliche Freiheit, und ebenfalls nur 21 Prozent befanden, Kapitalismus führe zu Wohlstand.
Wir formulierten einige der Fragen, ohne das Wort »Kapitalismus« zu verwenden, weil es für viele Menschen einen schlechten Klang hat. Die Zustimmung stieg in der Schweiz (wie in vielen anderen Ländern). Aber auch wenn das Wort nicht erwähnt wurde, war die Einstellung der Schweizer nicht positiv, sondern neutral – das heißt, die Zustimmung zu pro- und anti-marktwirtschaftlichen Aussagen hielt sich die Waage. Das Beispiel der Schweiz zeigt, dass es zwischen dem objektiven Stand der wirtschaftlichen Freiheit (wie er im Index of Economic Freedom gemessen wird) und der Einstellung der Menschen (die Ipsos MORI in der Umfrage ermittelt hatte) nicht unbedingt einen Zusammenhang gibt.
Aber was heißt es für die Zukunft, wenn die Menschen in einem Land wie der Schweiz dem Kapitalismus skeptisch gegenüberstehen? Volksabstimmungen könnten künftig häufiger anti-marktwirtschaftlich ausfallen als in der Vergangenheit. Dies hatte ich schon direkt nach der Umfrage von Ipsos MORI vorhergesagt, und leider wurde diese pessimistische Prognose schon bald darauf bestätigt: Im März 2024 stimmten 58 Prozent der Schweizer für einen Vorschlag der Gewerkschaften, wonach der Staat den Rentnern ein 13. Monatsgehalt zahlen muss. Die Vorlage wurde von linken Parteien unterstützt. Die Frage stellt sich: Wird die Schweiz dauerhaft ihren tollen Spitzenplatz im Ranking der wirtschaftlichen Freiheit behalten?
Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus dem neuen Buch von Dr. Dr. Rainer Zitelmann mit dem Titel Weltreise eines Kapitalisten (Finanzbuchverlag, 2024). Die Zwischentitel wurden vom Liberalen Institut hinzugefügt.